Wie bist Du auf die Idee zu www.wheelmap.org gekommen?
Raúl: Die Idee entwickelte sich aus einer echten Alltagssituation: Ein Freund hatte sich beschwert, dass wir uns immer in demselben Café treffen müssen. Wir beide wussten aber nicht, in welchem anderen Café ein Treffen überhaupt möglich wäre, ohne eine Stufe am Eingang zu haben, die man mit einem Rollstuhl nicht überwinden kann. Ein klassisches Beispiel, wie physische Barrieren täglich das Leben der rund 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer in Deutschland einschränken. In dieser Situation dachte ich, dass doch eine Karte hilfreich wäre, auf der die Rollstuhltauglichkeit von Orten in der Umgebung vermerkt ist. Das war sozusagen die gedankliche Geburtsstunde von www.wheelmap.org und der dazugehörigen Wheelmap-App. Die eigentliche Umsetzung erfolgte im Sommer 2010.
Wie genau wird ein Ort bewertet?
Raúl: Grundlegende Dinge sind wichtig, wenn es darum geht, zu prüfen, ob ein Geschäft oder Restaurant rollstuhlgerecht ist. Zu allererst ist zu schauen: Komme ich als Rollstuhlfahrer überhaupt rein? Gibt es Stufen oder auch eine Rampe? Dann sollte man prüfen, ob wirklich alle Räume zu erreichen sind. Wenn das der Fall ist, gilt der Ort als voll rollstuhlgerecht. Vor Ort kann man das Ergebnis über sein Smartphone direkt in der kostenlosen Wheelmap-App eingeben, oder natürlich später auf www.wheelmap.org. Der Ort wird dann in der Map für alle sichtbar mit einem grün unterlegten Fähnchen versehen. Gelb werden teilweise rollstuhlgerechte Lokalitäten markiert und ein roter Wimpel kennzeichnet einen nicht-rollstuhlgerechten Ort. Außerdem kann man individuelle Kommentare eintragen. Das sind in der Regel weitere Detailinformationen wie zum Beispiel „Zugang über die Terrasse ist möglich“. Uns war es wichtig, die Anwendung und das Einfügen der Daten so einfach wie möglich zu machen, damit sich auch technisch nicht so versierte Leute einbringen können.
Wie stark wird die Wheelmap genutzt?
Raúl: Die Karte ist seit September 2010 online und seit November 2010 auch für mobile Endgeräte verfügbar. Die Wheelmap-App für Smartphones bietet den Nutzern Informationen zu 1 Million erfassten Orten. Der hohe Verbreitungsgrad von Smartphones spielt der Wheelmap in die Hände. Dadurch werden sowohl die bisher vorhandenen Informationen immer stärker genutzt, als auch immer mehr „unbekannte“ Orte markiert. Täglich kommen etwa 300 neue Markierungen hinzu. Mit der Wheelmap-App kann man zum einen schnell nachschauen, ob der Supermarkt an der nächsten Straßenecke barrierefrei zu erreichen ist. Zum anderen lässt sich aber auch schnell einfügen, ob sich der neue Buchladen für den Rollstuhl eignet. Eine weitere Neuerung ist das Hochladen von Fotos zu Orten. Somit können sich Rollstuhlfahrer*innen ein genaueres Bild vom Eingang machen.
Richtet sich das Angebot ausschließlich an Rollstuhlfahrer?
Raúl: Die Zielgruppe sind zwar primär Rollstuhlfahrer. Aber auch Menschen mit Rollatoren und Familien mit Kinderwagen sind durch physische Barrieren im Alltag eingeschränkt und erhalten mit www.wheelmap.org einen echten Mehrwert. Selbstverständlich leisten alle Menschen – sowohl behinderte als auch nicht-behinderte – einen echten Beitrag für eine barrierefreiere Gesellschaft, wenn sie Informationen für die Wheelmap sammeln.
Wie sieht die Zukunftsperspektive der Wheelmap aus?
Raúl: Wir wollen bundesweit – und auch international – immer bekannter werden, um mehr und mehr Rollstuhlfahrern einen aktiven und abwechslungsreichen Lebensstil zu ermöglichen. Nach und nach sollen immer mehr Städte mit möglichst vielen markierten Orten dazukommen. Außerdem wollen wir das Angebot der verfügbaren Sprachen Stück für Stück erweitern. Auf Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch gibt es die Wheelmap schon, sogar auf Isländisch, Koreanisch und Japanisch kann man sie abrufen. Ein weiterer wichtiger Aspekt wird die Kooperation mit lokalen Organisationen und der Politik sein, die ähnliche Datenbanken mit barrierefreien Orten betreiben. Auch die Nutzerstruktur der Wheelmap wird sich künftig sehr wahrscheinlich weiter ausdifferenzieren. Schon heute sind etwa 4,8 Millionen Menschen mit Rollatoren unterwegs. Wir gehen davon aus, dass dieser Trend bedingt durch den demografischen Wandel weiter steigen wird. Das heißt, dass künftig immer mehr Menschen dank uns hoffentlich auf weniger Barrieren stoßen werden.
Wie verändert sich das Leben durch die Wheelmap? Kannst du ein konkretes Beispiel nennen?
Raúl: Als Berliner kann ich jetzt herausfinden, wo ich bei einem Münchenaufenthalt meine Brezel essen kann, ohne draußen vor der Tür kehrt machen zu müssen. Dank Wheelmap haben Menschen mit Mobilitätseinschränkungen jetzt einen Guide für rollstuhlgerechte Orte. Sie haben es damit leichter im Alltag neue Orte zu entdecken und andere Menschen, auch nicht-behinderte, zu treffen. Das ist ganz im Sinne der Wheelmap dann “Inklusion”.